Gruppenzwang oder Wahlfamilie: Das Cliquen-Dilemma

So weit ich mich zurückerinnern kann, war ich immer Teil einer Clique. Im Kindergarten, in der Grundschule, auf dem Gymnasium. Die Cliquen waren mal kleiner oder mal größer, mal nur Mädchen oder mal gemischt. Man traf sich vor der Schule, verbrachte die großen Pausen miteinander und ging abends gemeinsam feiern. Egal in welcher Phase meines Lebens, war ich also Teil von etwas. Von den Coolen, denen, die schon früh anfingen in Clubs zu gehen oder denen, die die Schule schwänzten. Das gab mir Sicherheit, einen Platz in der Welt und ich hinterfragte meine Rolle eigentlich selten. Bis – ja, bis ich es dann doch tat und aus meiner Clique ausstieg.

Bis – ja, bis ich es dann doch tat und aus meiner Clique ausstieg.

Ob bei Friends, How I met your Mother oder New Girl: Im TV werden uns enge Freundschaftsstrukturen präsentiert, die sich wahrscheinlich jeder von uns wünscht. Eine Wahlfamilie, die immer da ist, wenn man sie braucht und die einen besser kennt, als jeder andere auf dieser Welt. Aber: In meinen Augen sind sie völlig unrealistisch und lediglich ein filmisches Mittel, um den Kreis der Charaktere der Serie möglichst klein zu halten. Im wahren Leben glaube ich nämlich wenig an das Konzept Clique jenseits der 25.

Im wahren Leben glaube ich nämlich wenig an das Konzept Clique jenseits der 25.

Es ist doch so: Ist man Teil einer Clique, hat man auch automatisch eine zugeteilte Rolle und damit einhergehende Pflichten. Damit ein soziales Konstrukt funktioniert, ist das unerlässlich. Platz für Entwicklung oder etwas komplexere Wesensstrukturen bleibt da häufig kaum. Ob in einem Staat, einer Familie oder eben einer Clique: Das System funktioniert nur, wenn jeder seinen Platz kennt und akzeptiert. Damit meine ich jetzt nicht nur Rollen wie den Anführer, den Mitläufer oder den Klassenclown, sondern einfach das Verständnis, seine eigenen Wünsche eben mal hinten anzustellen. Will die Clique Sushi, du aber Pizza? Pech gehabt. Du hasst insgeheim den Stamm-Club deiner Clique? Pech gehabt. Sobald mehrere Leute, Meinungen und Gefühle im Spiel sind, wird es einfach kompliziert einen gemeinsamen Nenner zu finden. Natürlich hast du in der Gruppe eine Stimme, aber je größer die Clique ist, desto kleiner auch deren Gewichtung. Deshalb sage ich es jetzt einfach mal so, wie ich es ehrlich empfinde: Cliquen sind verdammt nochmal anstrengend!

Cliquen sind verdammt nochmal anstrengend!

Bis ich circa 17 war, hat mich das Cliquensystem nicht sonderlich gestört. Ich wusste immer, dass es Pläne fürs Wochenende gibt, neben wem ich in der Schule sitzen würde oder wen ich bei Liebeskummer anrufen könnte. Ich musste nicht viel dafür tun, um einen großen Freundeskreis zu haben, außer eben nicht großartig anzuecken. Irgendwann aber wurde mir alles zu eng. Ich hatte zu bestimmten Themen eine andere Meinung als meine Freunde, wollte mich auch mal mit Freunden treffen, die nicht Teil der Clique waren oder einfach mal ein Wochenende nicht ausgehen. Ich habe mich einfach auf ganz natürliche Weise entwickelt – und zwar weg von meinen Freuden. Dieser Impuls kam ganz natürlich aus mir heraus, je näher das Ende der Schulzeit rückte – und ich folgte ihm.

Dieser Impuls kam ganz natürlich aus mir heraus, je näher das Ende der Schulzeit rückte – und ich folgte ihm.

Ich habe gar nicht groß darüber nachgedacht was diese, für mich persönlich getroffenen Entscheidungen für Konsequenzen haben würden, aber es zeichnete sich ziemlich schnell ab, dass das „für mich selbst entscheiden“ in der Gruppenkonstellation nicht so recht funktionieren wollte. Ich war immer weniger dabei, hatte weniger Spaß an den Dingen, die wir so taten und irgendwann war ich dann ganz raus. Und soll ich Euch was sagen: Das war das beste Gefühl ever! Ich hatte keine Ahnung wie sehr es mir gefehlt hatte, aber ich fühlte mich plötzlich frei meine eigenen Entscheidungen zu treffen und meinen eigenen Bedürfnissen den Platz einzuräumen, den sie brauchten. Nicht, dass mir das vorher irgendwer offiziell verboten hätte, aber es gab eben unausgesprochene Regeln und Erwartungen, an die man sich genauso unbewusst gehalten hat.

Das ist jetzt gut 12 Jahre her und seitdem bin ich jeder Art von Clique ferngeblieben.

Das ist jetzt gut 12 Jahre her und seitdem bin ich jeder Art von Clique ferngeblieben. Einfach weil ich glaube, dass das nur in den seltensten Fällen im Erwachsenenalter funktioniert. Wer von Euch eine Zweitfamilie gefunden hat: Herzlichen Glückwunsch! Ich halte es nicht für unmöglich, aber ich glaube es ist erstens schwer und zweitens muss man der Typ dafür sein. Wir gehen studieren, ziehen für den Job um, haben einen Freund oder auch nicht. Die Variablen werden mit zunehmendem Alter einfach immer mehr und unberechenbarer. Wir verändern uns, gehen durch unterschiedliche Phasen und haben ganz eigene, individuelle Probleme. Da ist es schon schwer genug einzelne Menschen zu finden, deren Variablen zu einem passen. Ganz zu schweigen von einer ganzen Gruppe.

Da ist es schon schwer genug einzelne Menschen zu finden, deren Variablen zu einem passen. Ganz zu schweigen von einer ganzen Gruppe.

Ich bin mit den Jahren in dieser Hinsicht eher ein Einzelgänger geworden. Ich liebe meine Freunde natürlich von ganzem Herzen, aber ich bin jemand der Platz braucht. In meinem eigenen Leben und in dem anderer. Deshalb suche ich mir die Leute, die mich in meinem Leben begleiten, sehr sorgfältig aus und nehme wiederum auch meine Pflichten als Freundin sehr ernst. Heute habe ich statt einer feste Clique viele einzelne Freunde, die untereinander kaum etwas miteinander zu tun haben. Klar, so eine Clique hat Vorteile: Man kann sich im Zweifel einfach mal irgendwo dranhängen, findet eigentlich immer einen Platz und muss sich z.B. Silvester keinen Kopf darüber machen, mit wem man den Abend verbringt. Es ist schön und beruhigend irgendwo dazuzugehören.

Es ist schön und beruhigend irgendwo dazuzugehören.

Trotzdem bleibt das How-I-Met-Your-Mother-Prinzip für mich völlig unrealistisch. Man wohnt zusammen, trifft sich abends in der Stammkneipe und teilt alle Gedanken und Gefühlen mit der Gruppe. Was ist also, wenn man einen Freund hat, den die Gruppe nicht mag? Oder man ein Hobby findet, bei dem keiner mitmachen möchte? Einen Job hat, der sehr zeitintensiv ist und man Abends einfach nur blöd in die Glotze schauen möchte? Ich glaube Ihr versteht worauf ich hinaus will: Wo bleibt die Individualität in einer Clique?

Wo bleibt die Individualität in einer Clique?

Und was passiert erst, wenn man heiratet und Kinder hat? Wenn man nicht mehr immer verfügbar ist? Wenn jemand auf einen anderen Kontinent zieht? Genau das meine ich, wenn ich sage, dass Cliquen-Konstrukte mit zunehmendem Alter nur schwieriger werden. In der Pubertät ist es toll und wichtig einen Platz zu haben, das Gefühl irgendwo dazuzugehören. Aber ich bin verdammt froh, den Absprung geschafft zu haben. Mehr auf mich selbst zu hören und für mich einzustehen war ein wahnsinnig wesentlicher Aspekt für meine weitere Entwicklung.

Das selbe Prinzip lässt sich natürlich auf Beziehungen jeder Art anwenden. Sei es der Job, die Partnerschaft oder in gewissen Fällen auch Familienmitglieder. Wenn man das Gefühl hat, sich nicht mehr frei entfalten zu können, immer öfter Dinge zu tun, hinter denen man eigentlich nicht steht und seine eigenen Bedürfnisse konstant hinten anzustellen, dann ist es an der Zeit den Status Quo zu überdenken. Denn die wichtigste Beziehung in unserem Leben ist und bleibt die zu uns selbst.

Denn die wichtigste Beziehung in unserem Leben ist und bleibt die zu uns selbst.

9 Antworten zu “Gruppenzwang oder Wahlfamilie: Das Cliquen-Dilemma”

  1. Ich würde jedes einzelne Wort so unterschreiben. Ich glaube fast, dass man in seiner Schulzeit solch eine Clique braucht, um herauszufinden, wer man ist und was man will und was eben nicht. Zumindest glaube ich, dass man dies in einer Gruppe viel schneller herausfindet, einfach weil alle am Ende des Tages doch verschiedene Persönlichkeiten sind. In meinem Fall war es zumindest so. Es gab einige Dinge, die ich ohne meinen Freundeskreis gar nicht ausprobiert hätte oder die ich eben deutlich später erst versucht hätte. Solch eine Clique gibt dir in jungen Jahren Sicherheit…
    Ich empfand das Ende dieser typischen Schulcliquen-Zeit als eine schmerzhafte als auch eine sehr befreiende Zeit…
    Nachgedacht habe ich darüber bisher jedoch noch nie. Danke für den kleinen Denkanstoß 🙂

    • Total! Ich denke das gehört einfach dazu. Mir ist irgendwann einfach aufgefallen, wie wenige Cliquen es eigentlich in meinem Umfeld noch so gibt und wieso ich auch kein Teil einer solchen mehr sein möchte. Alles hat eben seine Zeit <3

  2. Brillant geschrieben. Habe mich in diesem Artikel mehrmals einmal wiedergefunden. Vieles deckt sich mit Beobachtungen, die ich selber machte. Treffender, ehrlicher Artikel!

  3. Ich lese erst jetzt am 10.03.22 deinen Artikel. Als Einzelgänger habe ich mich mehrmals mit deinen Sätzen identifiziert, da ich denselben Verlauf erlebt habe, obwohl ich aus einem anderen Land herkomme (Marokko). Nach und nach habe ich meinen eigenen Weg gefunden, wo ich meine Individualität mehr äußern konnte. Das hat zwar viel Mut und Selbstbestimmung verlangt, aber ich habe es immer noch nie bereut, denn das hat viel zu meiner persönlichen Entwicklung gebracht. Nun habe ich keine Clique, dennoch habe ich einzelne Freunde überall in Marokko und in Deutschland verstreut bekommen. Jeder Freund spiegelt einen Teil meiner Persönlichkeit und kennt einen Teil von mir. Und das ist also auch gut so, denn wir Menschen müssen nie perfekt matchen und müssen auch nicht Kompromisse treffen, nur um zusammen zu sein. Die wichtigste Beziehung ist und bleibt die Beziehung mit sich selbst. Danke für den tollen Artikel <3

  4. Der Artikel ist wirklich gut geschrieben und beschreibt die Mechanismen in Cliquen wirklich gut. Es wird von Typen gesprochen, die Cliquen mögen. Ich glaube, dass sich hier ein weiterer Aspekt des Themas zeigt. Vermutlich fühlen sich Personen, die vermeidend gebundenen sind (Bindungstheorie nach Bowlby), in Cliquen besonders wohl. In einer Clique muss man sich nicht binden oder tief einlassen, um sich mit anderen und damit Unterhaltung zu umgeben. Das entspricht Vermeidern besonders, da bei zu viel Nähe ihr Bindungsystem angeregt wird und sie versuchen Abstand herzustellen. Da es in Cliquen nicht um Nähe sondern eher um leichten Zeitvertreib geht, fühlen sich Vermeider hier in der Regel besser.
    Auch haben Vermeider manchmal ein Thema mit dem Verlassen werden. Das droht ihnen in Cliquen weniger als in Beziehungen. So ziehen Vermeider oft die Clique einer Beziehung vor.

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