„Entspann dich mal!“ – Aus dem Leben eines Kontrollfreaks
Ich bin ziemlich uncool.
Ich bin ziemlich uncool. Coole Leute stehen nämlich morgens auf, schlüpfen in irgendein cooles T-Shirt, das gerade oben auf dem noch nicht gemachten Wäschestapel liegt, treffen sich dann ganz spontan mit ihren ebenso coolen Freunden um zu sehen was der Tag so bringt. Und dabei sind sie die ganze Zeit mega easy und entspannt. Ich nicht. Ich bin ziemlich unentspannt.
Ich habe gerne die Kontrolle über Dinge. Über mich, meinen Job (ein Grund wieso ich mich für die Selbstständigkeit entschieden habe) und kann es gar nicht leiden, wenn Dinge spontan und ungeplant passieren. Allein bei diesen beiden Worten stellen sich mir schon die Nackenhaare auf. Ich habe Routinen und feste Abläufe, die mir das Gefühl vermitteln alles im Griff zu haben. Mehr angespannt als entspannt also. Und wieso ich Euch das erzähle? Weil ich glaube, dass ich damit nicht alleine bin und finde, dass hier mal eine Lanze für all diejenigen unter uns gebrochen werden muss, die mehr Blair als Serena sind.
Weil ich glaube, dass ich damit nicht alleine bin und finde, dass hier mal eine Lanze für all diejenigen unter uns gebrochen werden muss, die mehr Blair als Serena sind.
Fernsehen und Social Media sind voll von diesen entspannten, coolen, lässigen Menschen, die scheinbar ALLES unter einen Hut bekommen. Freunde, Familie, Job und so weiter und sofort und dabei wirkt es, als sei dieser Balanceakt auch noch super easy, wenn man einfach seinem Bauchgefühl folgt. Es scheint eine erstrebenswerte Tugend unserer Zeit zu sein möglichst locker an die großen Themen des Lebens heranzugehen: Selbstverwirklichung, Liebe, Karriere. Weil Stress ja eh nichts bringt. Ist bestimmt was Wahres dran, aber was ist, wenn man das einfach nicht auf die Kette bekommt – das mit dem Entspanntsein?!
Ist bestimmt was Wahres dran, aber was ist, wenn man das einfach nicht auf die Kette bekommt – das mit dem Entspanntsein?!
Abwarten und sehen was der Tag so bringt?! Nope, da bin ich raus. Ich habe immer einen Plan! Beruflich, privat und auch sonst immer. Kommt dann irgendetwas um die Ecke, das ich trotz aller umsichtiger Planung nicht absehen konnte, habe ich ein Problem und bin erstmal aufgeschmissen. Meine Reaktion: Hektik, Stress und eine innere Unruhe. Ich bin hibbelig und angespannt bis ich die Situation wieder unter Kontrolle habe. Das kann ganz schön anstrengend sein.
Meine Reaktion: Hektik, Stress und eine innere Unruhe. Ich bin hibbelig und angespannt bis ich die Situation wieder unter Kontrolle habe. Das kann ganz schön anstrengend sein.
Schon als Kind habe ich meinen Eltern gerne Löcher in den Bauch gefragt: „Wo gehen wir hin?“, „Was machen wir da?“, „Wann kommen wir wieder?“ und vor allem „Gibt es da was zu essen?“ Ich wollte instinktiv schon immer ganz genau wissen was mich erwartet, um mich innerlich darauf einstellen zu können. Und war dann irgendetwas anders als angekündigt, ja dann hab ich erstmal stundenlang geheult. Das tue ich heute zwar nicht mehr (naja, manchmal), aber ich halte auch jetzt noch an festen Absprachen zu Uhrzeiten, Orten, Abendplanung usw. fest. Ich bin IMMER (ungelogen) mindestens fünf Minuten zu früh, google vorher den optimalen Weg von A nach B und warte lieber auf andere, als dass ich jemanden auf mich warten lasse.
Überraschungen sind mir ein Graus, weshalb ich bereits als kleines Kind alle Verstecke erspäht habe, an denen meine Eltern meine Weihnachtsgeschenke verstecken konnten, damit ich bereits vor dem Heiligabend wusste, was ich geschenkt bekomme. Ihr merkt langsam – ich bin wirklich nicht sehr entspannt. Deshalb ernte ich auch gerne den Spruch „Entspann dich mal!“. Und ich kann Euch gar nicht sagen, wie sehr ich diese Worte verabscheue. Nicht nur, dass ich mich natürlich NICHT entspanne, wenn man es mir vorschreibt, ich weiß gar nicht wie das genau gehen soll. Ich bin schlecht im Entspannen und auch im Genießen.
Ich esse meine Pizza Salami mit extra Salami in unter 10 Minuten, laufe (egal ob ich es eilig habe oder nicht) immer sehr zügig, bin außerdem wahnsinnig ungeduldig und „Chillaxen“ ist für mich ein Fremdwort.
Ich esse meine Pizza Salami mit extra Salami in unter 10 Minuten, laufe (egal ob ich es eilig habe oder nicht) immer sehr zügig, bin außerdem wahnsinnig ungeduldig und „Chillaxen“ ist für mich ein Fremdwort. Für mich sind entspannte Menschen, oder die, die sich binnen Sekunden auf neue Situationen, Menschen, Umstände einstellen können, deshalb ein absolutes Phänomen. Nicht dass Ihr mich falsch versteht – ich bin sehr wohl in der Lage ein normales Gespräch mit meinem Gegenüber zu führen, beherrsche sogar Smalltalk inzwischen ganz passabel und kann recht gut auf Leute zugehen. Eigentlich bin ich sogar ziemlich selbstbewusst und meinungsstark. Allerdings glaube ich, dass ich das genau deshalb sein kann, weil mir bestimmte Konstanten in meinem Leben den Halt und die Unterstützung dafür bieten. Und trotzdem bin ich einfach nicht ganz so entspannt wie ich auf meine Umwelt manchmal wirke, habe immer alles im Blick und wäge gedanklich oft schon im Vorhinein alle Eventualitäten ab.
Ich habe es mit autogenem Training, Yoga und Atemübungen versucht – aber irgendwie entwickle ich selbst bei der Entspannung einen so wahnsinnigen Ehrgeiz, dass ich damit den eigentlich Sinn komplett verfehle.
Ich habe es mit autogenem Training, Yoga und Atemübungen versucht – aber irgendwie entwickle ich selbst bei der Entspannung einen so wahnsinnigen Ehrgeiz, dass ich damit den eigentlich Sinn komplett verfehle. Und so habe ich für meinen Teil inzwischen meinen Frieden mit meiner Unentspanntheit gemacht. Auch wenn ich hier und da von Freunden und Familie noch aufgezogen werde (mein Spitzname ist Johnny Kontroletti), weiß ich, dass es Schwäche und Stärke zugleich ist. Denn: Man kann sich zu jeder Zeit 100%ig auf mich verlassen. Ich antworte binnen Minuten auf Nachrichten, habe sogar nachts mein Handy an (es könnte ja irgendwas sein) und bin besonders im Job sehr verlässlich. Wenn ich etwas sage, dann halte ich es auch. Aber natürlich setze ich mich genau dadurch auch konstant unter latenten Stress, mache mir das Leben oft selbst schwer und nehme die vielen kleinen Dinge, die einem das Leben manchmal so spontan entgegenwirft, oft gar nicht wahr. Wie war das nochmal mit dem Fluch und dem Segen?!
Wie war das nochmal mit dem Fluch und dem Segen?!
Ich für meinen Teil kenne das Fernsehprogramm der nächsten Woche auswendig, weiß wann es das nächste Mal Pizza Salami mit extra Salami gibt (ich esse seit 25 Jahren keine andere Pizza, einfach weil sie mir so vertraut ist und ich weiß was ich zu erwarten habe) und habe auch das kommende Wochenende schon durchgeplant. Und ich mag das so. „Unentspanntsein“ ist nämlich gar nicht so uncool. Ich mache mir gerne Gedanken um Dinge. Meiner Meinung nach braucht jeder hier und da ein wenig Halt, Kontrolle oder Struktur um sein Leben zu meistern. Und manche eben einfach ein bisschen mehr. Also falls unter Euch auch ein paar Kontrollfreak sind, hoffe ich, dass Ihr Euch (zumindest heute) auch mal extrem cool fühlt. Ich tue es definitiv!
Also falls unter Euch auch ein paar Kontrollfreak sind, hoffe ich, dass Ihr Euch (zumindest heute) auch mal extrem cool fühlt. Ich tue es definitiv!
Schreibst du da über mich oder über dich? 😉 alles, einfach alles (ausser das mit der Pizza Salami ?) trifft auf mich zu. Auch mich nennt jeder Johnny Kontroletti, aber ich komme da einfach nicht aus meiner Haut. Hab vieles versucht und scheitere dann doch wieder. Anstrengend ist das richtige Wort und fasst alles zusammen was das mit sich bringt. Ich danke für den Artikel, geteiltes Leid ist nicht nur halbes Leid, sondern hilft heute tatsächlich mich ein wenig cooler zu fühlen! 😉
Liebste Jenny (oder Johnny), ich würde sagen wir stehen jetzt einfach dazu, deal?
xxx K.
Deal!
Deal!
Daaaanke für diesen wunderbaren Text! Jetzt bist du erst recht in die Liga der coolen Leute aufgestiegen!
<3
Exakt wie bei mir, sogar die Pizza Salami (aber das ist ja auch die beste Pizza;) ).
Ich bin extrem ungeduldig, Laufe immer zügig und Zuhause muss alles immer am richtigen Platz liegen. Genau so mit der Pünktlichkeit: In der Schule würde der spätere Bus noch dicke reichen, aber ich nehme den früheren, mit dem ich dann viel (und hier meine ich viel) zu früh bin.
Aber es ist sehr erleichternd, dass es anderen genauso wie mir geht.
LG Nele
Ohja, ich glaube von uns gibt es viel mehr als wir denken! Und ich persönlich finde ja auch, dass wir die besseren Menschen sind 🙂 hahah
[…] Euch verraten wieso? Weil er mir erstens gar nicht mal so gut schmeckt, ich zweitens ein kleiner Kontrollfreak bin und mir das “Loslassen” eben nicht in jeder Lebenslage so leicht fällt und ich […]